texte.pgs-info.de
Beiträge zu Gesellschaft und Politik.
www.realfragment.de
realfragment   Fotografien von Patrick G. Stößer
Jugend in Berlin - eine soziologische Annäherung
Erklärung in der freien Enzyklopädie Wikipedia: Wort im Artikel markieren und ? klicken.

nach oben

Dieser Text ist mir etwas wert:   Was ist das?

Einleitung

Nahe bei einer Soziologie der Bildung, die sich nicht nur als klassische Bildungssoziologie im Sinne der Aneignung eines Wissenskanons, sondern als Bildungssoziologie im Sinne der Bildung, der Entwicklung eines Menschen verstehen will, befindet sich - auch schon durch die Namensverwandtschaft erkennbar - der Bildungsroman, "ein Roman der Bildung" eines Menschen "von der Kindheit zur Reife" 1, "[...] die Geschichte der Entwicklung, Entfaltung und Erweiterung eines einzelnen Individuums innerhalb des Kontextes einer definierten sozialen Systems" 2"[...] auf ein bestimmtes Bildungsziel hin." 3
Als Musterbeispiel des Bildungsromans wird immer wieder Johann Wolfgang von Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" angeführt. 4Weitere wichtige Vertreter dieses Genres sind beispielsweise Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich", Hermann Hesses "Das Glasperlenspiel" oder Günter Grass' "Die Blechtrommel". 5
"Jugend in Berlin" von Nicolaus Sombart ist kein klassischer Bildungsroman nach dem Muster "Ein Mensch gelangt nach vielen Irrwegen schließlich zum Ziel, der Integration in die Gesellschaft als tätiges Mitglied" 6 - dazu ist er zu autobiographisch angelegt.
Da aus soziologischer Sicht jedoch weniger die ästhetischen Qualitäten eines Werkes per se denn vielmehr die Darstellung sozialer Prozesse wichtig sind, kann "Jugend in Berlin" für eine Soziologie der Bildung interessante Anstöße liefern: Sombart beschreibt sein Aufwachsen im großbürgerlichen Berlin-Grunewald, einem Mikrokosmos der hochbürgerlichen Kultur inmitten des Dritten Reiches.
Somit wird ein Bild jener Zeit aus der Sicht einer ungewohnten und vielleicht heute kaum noch wahrgenommenen sozialen Gruppierung vermittelt.
Eingegangen werden soll im Rahmen dieser Arbeit soll auf den Bildungsbegriff Sombarts, auf die Darstellung von Bildung und sozialer Ungleichheit, auf die Darstellung des Verhältnisses Bildung und Nationalsozialismus - dies alles aus der subjektiven Sicht Sombarts gesehen.

?

nach oben

Biographie 7

Nicolaus Sombart wurde am 10. Mai 1923 in Berlin als Sohn von Corina (auch: Corinna) Sombart und des Soziologen und Nationalökonomen Werner Sombart geboren.
Seine Kindheit und Jugend war äußerst privilegiert - "weitgehend abgeschirmt von zunehmendem Antisemitismus und dem aufkommenden Nationalsozialismus lebte Nicolaus Sombart in einer Art Idylle [...]" 8, aus der er 1942 abrupt herausgerissen wurde: Zur Wehrmacht eingezogen, geriet Sombart in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wurde, um nach Heidelberg zu gehen - "[...] weil es unzerstört ist und eine berühmte Universität hat." 9
1947 erscheint Sombarts erster Roman "Capriccio No. 1. Des Wachsoldaten Irrungen und Untergang". Im gleichen Jahr wird Sombart Gründungsmitglied der Gruppe 47.
Nach Aufenthalten in Neapel und Paris, wo er sich mit Philosophie, Staatswissenschaften und Kultursoziologie beschäftigt, promoviert Nicolaus Sombart 1950 bei Alfred Weber über "Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Grafen Henri de Saint-Simon. Ein Beitrag zu einer Monographie des Krisenbegriffs."
Von 1952 bis 1954 hält Sombart sich in Paris auf; zwischen 1954 und 1984 arbeitet er als Beamter beim Europarat in Straßburg und erhält mehrere Lehraufträge.
1977 wird Nicolaus Sombart in den PEN 10aufgenommen.
1982 kehrt Sombart nach Berlin zurück, wo er bis 1983 als Fellow am Wissenschaftskolleg tätig ist. Im Rahmen eines Lehrauftrages der FU Berlin forscht Sombart bis 1987 über Geschichte und Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland. In dieser Zeit wächst auch seine publizistische Tätigkeit.
1983 erscheint "Jugend in Berlin. 1933 - 1945", der erste Teil seiner Autobiographie und wird Sombarts erfolgreichstes Buch.
1994 veröffentlicht Nicolaus Sombart "Pariser Lehrjahre 1951- 1954. Leçons de Sociologie" als Weiterführung von "Jugend in Berlin".
2000 schließlich wird die autobiographische Lücke geschlossen: Mit "Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945 - 1951" werden die "Jugend in Berlin" und die "Pariser Lehrjahre" zu einer "autobiographischen Trilogie" 11verbunden. Inhaltsbeschreibung "Jugend in Berlin" ist ein Bericht aus einem großbürgerlichen Gelehrtenhaus, dem der Autor als Sohn des Soziologen und Ökonomen Werner Sombart entstammt.

?

nach oben

Inhaltsbeschreibung

Nicolaus Sombart schildert die Periode seines Lebens im Alter von 10 bis 22 Jahren, welche mit dem Zeitraum der nationalsozialistischen Diktatur zusammenfällt.
Sombart hatte "[...] eine außerordentlich privilegierte Kindheit" 12. Die Privilegien bestehen für den jungen Sombart weniger aus einem "gewissem Wohlstand", der sich zum Beispiel im Vorhandensein von Dienstboten, einer Mamsell, einem Zimmermädchen, einem Hausmeisterehepaar und einer französische Gouvernante und all "[...] den Requisiten, die zu den Essentials einer kultivierten Lebensform gehörten" 13, ausdrückt - diesen gewissem Wohlstand empfindet die Familie als etwas Selbstverständliches, über das man nicht spricht - , die privilegierte Kindheit äußert vielmehr sich darin, dass Nicolaus Sombart "das außerordentliche Glück" 14besitzt, Eltern zu haben, die er bewundern kann: "[...] ich erinnere mich nicht daran, ihnen gegenüber ein einziges Mal ein Gefühl von Revolte, von Verachtung, von Mitleid empfunden zu haben. [...] Ich wollte sein und werden wie sie" 15- ob das Fehlen jeglicher Distanzierung (von Revolte soll hier gar nicht gesprochen werden!) von der elterlichen Instanz nicht ein Entwicklungsdefizit ist, sei hier dahingestellt.

?

nach oben

Bildungsmechanismen bei Sombart

Bibliothek und Salon: Das Elternhaus

"Was ich bin und weiß, verdanke ich der Bibliothek meines Vaters und dem Salon meiner Mutter." 16Diesen Satz stellt Nicolaus Sombart an den Anfang seines Lebenslaufes - und dieser Satz zeigt die zentralen Bildungsinstitutionen in Sombarts Elternhaus, die für sein Wesen prägend sein sollten, auf.

Die Bibliothek des Vaters

Die Bibliothek Werner Sombarts umfasste zurzeit der Handlung ungefähr 6000 Bände; 30000 Bücher waren vorher verkauft worden. 17Die Bibliothek bildet das Wissenszentrum des Hauses und dient Nicolaus Sombart als Zugang zum Reich des Geistes.
Hier errichtet Nicolaus Sombart gleichsam sein Bildungsfundament; er "bildet" sich nicht aus Zwang, sein Wissenserwerb ist ein lustbetonter, selbstmotivierter, der nicht als geistige Arbeit empfunden wird, sondern zuweilen die Züge eines Zeitvertreibes - nicht umsonst zieht Sombart den Vergleich zum Fernsehen - trägt: "Diese Bibliothek habe ich von meiner frühesten Kindheit an [...] geplündert. Es gab damals noch kein Fernsehen. Ich lag also stundenlang auf dem Teppich und schmökerte. Alles was ich weiß, stammt eigentlich aus dieser Zeit. Ich habe später immer nur nach-gelesen." 18
Um die Besonderheit und Wichtigkeit der elterlichen Bibliothek zu verstehen, muss hier kurz das Wesen einer Privat - oder auch Gelehrtenbibliothek wie die der Sombarts erläutert werden.
Sie stellt eine der letzten Exemplare einer damals aussterbenden und heute ausgestorbenen Gattung dar. Ihre Ursprünge reichen zurück bis in die Klosterbibliotheken des Mittelalters, in denen das Wissen der Menschheit an einem Ort präsent war. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die ersten Ausläufer der Wissensexplosion sich bemerkbar zu machen. In der Folge wurden die "Möglichkeiten des Privatbesitzes" 19durch die schiere Masse an Wissen zunichte gemacht. 20
Sombarts Verhältnis zu seinem "Weltgeistdepot" zeichnet sich also dadurch aus, dass er in der Lage ist, über Wissen zu verfügen, es sich im wahrsten Sinne des Wortes anzueignen. Dies zeigt sich denn auch in einem sehr unverkrampften Umgang mit Wissen: "Mein Selbstwertgefühl war wesentlich dadurch geprägt, dass ich selbstverständlich Zugang zu dieser Bibliothek hatte. Ich befand mich hier nicht als Fremder oder Eindringling, sondern aufgrund eines eingeborenen Rechts. [...] ich fühlte mich keineswegs erdrückt und bedrängt, erschreckt oder verängstigt durch die geballte Fülle von Informationen, die hier gespeichert waren. Nein, ich genoss ihre Verfügbarkeit." 21

Der Salon der Mutter

Was kann man sich unter einem Salon vorstellen? Um diese fast vergessene (allerdings in jüngster Zeit wieder neu belebte 22) Form der Geselligkeit verstehen zu können, muss auch hier ein kurzer Blick in die Vergangenheit geworfen werden.
Die Ursprünge der europäischen Salons reichen in die mittelalterliche höfische Kultur zurück. In Deutschland entstanden die ersten Salons erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 23
Auch wenn es den "typischen" Berliner Salon nicht gab 24, können jedoch Kriterien genannt werden, die einen Salon kennzeichnen: "[...] Ein Salon kristallisiert sich um eine Frau. [...] Ein Salon stellt eine gesellschaftliche Institution [...] dar. [...] Der Salon ist ein Schauplatz zwangloser Geselligkeit. [...]. Der Salon stellt einen Freiraum dar. [...]" 25
Von diesen Kriterien stellt Sombart vor allem eine heraus: das weibliche Wesen als Zentrum des Salons. "Ein Salon ist ein Kreis von Menschen, die auf eine Frau als ihren Mittelpunkt bezogen sind. Sie können sich [...] in einem eleganten Dekor treffen oder in einer Dachstube, [...] teure Häppchen verzehren oder dünnen Tee [...] schlürfen, [...] gemeinsam musizieren oder Musik hören, Gedichte vorlesen, über Politik diskutieren oder einfach nur klatschen - nicht das gibt den Ausschlag. Entscheidend ist die unangefochtene und unanfechtbare Autorität einer Frau." 26
"Konflikte, dogmatische Kontroversen (und) Feindschaften" 27sind unerwünscht, hier herrscht das Prinzip des gegenseitigen Respektes und der gegenseitigen Rücksichtnahme. In solch einer Atmosphäre gilt nicht das "männliche" Recht des Stärkeren. Der Sinn der Zusammenkunft liegt nicht darin, der Beste zu sein, sondern der Gemeinschaft das Beste zu geben - honoriert wird "[...] die Diversifizät der Begabungen, die Originalität der Anregungen, die Extremität der Standpunkte[...]" 28- aber nur, wenn sie den Salon bereichern.
Der Salon stellt damit einen matriarchalischen "pazifizierten Raum" 29einer männerdominierten Außenwelt gegenüber - und dies umso mehr in einer Zeit, in der das Ideal "nicht im ehrbaren Spießbürger oder der tugendsamen alten Jungfer [...], sondern in der trotzigen Verkörperung männlicher Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen" 30 gesehen wurde.

Das Grunewaldgymnasium

Die Volksschule (Grundschule) durchlief Nicolaus Sombart zum Teil in einer Privatschule, hierauf geht er aber nicht weiter ein.
Seine Gymnasialzeit verbrachte Sombart im Grunewaldgymnasium, der heutigen Walther-Rathenau-Oberschule. Diese war kein klassisches humanistisches Gymnasium, sondern ein reformiertes Gymnasium, das man heute auch als Art Gesamtschule bezeichnen würde und wegen dieses damals neuen Lehransatzes über Berlin heraus bekannt war.
Die Schule gliederte sich in drei Zweige 31: einem Reformgymnasium mit Griechisch, einem Reformrealgymnasium mit Latein und modernen Sprachen und einer Realschule mit Betonung auf den naturwissenschaftlichen Fächern. In den Oberstufen wurden allen offenstehende Wahlkurse und Sonderkurse angeboten, wodurch sich Schüler aus allen Zweigen mischten. Es handelte sich also um ein sehr breit gefächertes Bildungsangebot, Sombart spricht von einem "universitätsartigem Charakter" 32- eine Parallele zum Wissensdepot der elterlichen Bibliothek.
Diese Verkörperung einer liberalen Bildungsauffassung wurde in den Jahren des Naziregimes sukzessive gleich- und damit abgeschaltet.

?

nach oben

Sombarts Bildungsbegriff

Wenn Nicolaus Sombart von (seiner) Bildung spricht, so meint er damit einen sehr umfassenden Bildungsbegriff.
Er hat wohl -entsprechend den wohl auch vom Vater geprägten Resten der bildungsbürgerlichen Tradition noch einen Kern im Sinne des klassischen Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters.
Neben diesem Kern existieren jedoch viele andere - und für die damalige Zeit auch extraordinäre - Bildungselemente: "französische Décadence und bündische Fahrtenromantik, chinesische Philosophie und englische Praeaffaeliten, Holzschneiderei und Theaterleidenschaft, süddeutscher Barock und Baudelaire [...]" 33, darüber hinaus das Zusammentreffen mit Intellektuellen und Künstlern durch den Salon seiner Mutter, die Erfahrung einer Bildungsfreiheit durch die Bibliothek seines Vaters und dem neuartigen Lehrkonzept des Grunewaldgymnaiums, erste Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht - dies alles und noch viel mehr verbindet sich in der Person Sombarts zu einem Menschen außergewöhnlicher Bildung - auch hier ist nicht nur die Dimension der "Schulbildung" gemeint.
Möchte man an dieser Stelle Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals verwenden, so ist es in allen Ausprägungen 34reich vorhanden.

?

nach oben

Bildung und soziale Ungleichheit

Der unmittelbare Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Entwicklung äußert sich bei Sombart vor allem in der Klassengemeinschaft im Grunewaldgymnasium.
Die Schulklasse ist der Ort, an dem junge Menschen verschiedenster Fähigkeiten und sozialer sowie kultureller Herkunft eine Großteil ihres Tages miteinander verbringen. Auf die Zusammensetzung und damit grundsätzlich auf die Wahl der sozialen Beziehungspartner hat daher zunächst weder der Lehrer, noch der Schüler oder dessen Eltern bzw. Erziehungsberechtigte. 35
Daher lassen sich hier, am Ort der institutionalisierten Bildung, Einflüsse sozialer Ungleichheit relativ leicht analysieren.
Das Grunewaldgymnasium war eine Schule mit überdurchschnittlich guter personeller und materieller Ausstattung. Sombart berichtet von amphitheatralischen Hörsälen der Oberstufe, riesigen, luxuriös ausgestatteten chemischen und physikalischen Laboratorien, Zeichensälen und berühmten Sammlungen von Lehrmaterial. 36
Diese außergewöhnliche Ausstattung war nicht durch die öffentliche Hand zu finanzieren, sondern nur durch Spenden wohlhabender Eltern - "[...] das waren die im Grunewald ansässigen reichen jüdischen Bürger, die ihre Kinder vorzugsweise in diese Schule schickten" 37, und in dieser Zeit hatte das Gymnasium schon den Spitznamen "Judenschule", was sich als unheilverkündende Vorbote der "neuen Zeit" erweisen sollte. 38
Nicolaus Sombart verbrachte seine gesamte Gymnasialzeit in der gleichen Klasse, die ihm die "[...] Geborgenheit einer vertrauten Schicksalsgemeinschaft [...]" 39gab.
In der Klasse selbst gab es eine soziale Rangordnung - Sombart spricht von einer "Hackordnung" - , die sich mit der Zeit kaum veränderte und die soziale Struktur der Schule widerspiegelte. Die Klasse gliederte sich in drei Kategorien von Schülern 40, wobei sich diese Kategorien über den sozialen Status der Eltern und, damit einhergehend, der räumlichen Zuordnung des Elternhause, definierten. Der ersten Gruppe gehörten Kinder, deren Eltern eine "Villa" besaßen, an: die eigentlichen Grunewalder. An der Spitze dieser Gruppe standen zwei (!) Schüler: Kinder von Seegrundstücksbesitzern. Die zweite Gruppe stellten die "Eichkamper" dar, die in kleinen Reihenhäusern lebten, eine stark zusammenhaltende Clique, die ungebundener, in lockeren Familienverhältnissen als die beiden oberen Gruppen aufwuchs - eine Hauch von Bohème. Am Ende der sozialen Rangordnung stand das Halenseer "Proletariat", deren Eltern in Mietwohnungen im Einzugsgebiet des Gymnasiums wohnten. "Sie waren gut im Turnen und wurden später Fähnleinführer. Sie kamen in der braunen Uniform zur Schule, was bei uns verpönt war." 41
Hier deutet sich der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer (und hier insbesondere kultureller) Ungleichheit 42an: Während der Nationalsozialismus für die beiden "höhergestellten" Gruppen schlicht uninteressant war, weil er kulturell nichts bieten konnte, hat er für das "Proletariat" mit entsprechend niedrigerem kulturellen Kapital eine höhere Anziehungskraft als "geistige Erbauung", die vom Naziregime ja auch als weniger wichtig als sportliche Betätigung erachtet wurde 43.

?

nach oben

Bildung und Nationalsozialismus

Das Versagen des Bürgertums Unter diesen besonderen, sozusagen verschärften Bedingungen wird klar: Auch Politik wirkt sich auf die Entwicklung aus - oder im Umkehrschluss: Die Entwicklung bestimmt die politische Einstellung.
Im eigentlichen Grunewaldsviertel und in Sombarts Elternhaus war vom Nationalsozialismus zunächst kaum mehr als ein Wechsel der Politik, von dem aber nie die Rede war, etwas zu spüren - schon gar nicht Aufmärsche (die Sombart als "Umzüge" bezeichnet).
Man begab sich nicht in die Niederungen der Politik - schon gar nicht in die der "ungebildeten" Nazis - "Grunewald war in der Hitler-Zeit eine apolitische Enklave, in der es jedes Jahr stiller wurde [...]." 44 Man hielt Distanz, aber distanzierte sich nicht und arrangierte sich mit dem Unvermeidlichen ("Wenn 'geflaggt' werden musste, hängte das Dienstmädchen ein kaum sichtbares Fähnlein aus der Dachluke." 45). Vermutlich lässt sich diese Haltung zum Nationalsozialismus charakterisieren als "selbstverständlich" nicht dafür - aber erklärt dagegen auch nicht.
Pross spricht in diesem Zusammenhang vom weiten "[...] Feld des bürgerlichen Versagens, wie es sich nach [...] 1848 [...] herausgebildet hatte. Das deutsche Bürgertum war niemals zu wirklichen politischen Leistungen gelangt und auch im Widerstand trat diese große Schicht kaum hervor [...]." 46

?

nach oben

Das Werk der Zerstörung

Sombarts Entwicklung ist geprägt durch das Vorleben einer zwar wertkonservativen, aber liberalen Haltung seiner Eltern. Einen starken Einfluss auf seine Bildung nimmt die einerseits die Bibliothek als Ort der formellen Bildung und andererseits der Salon als Ort der informellen Bildung. Gerade durch das Zusammentreffen mit Künstlern und Intellektuellen in der "Einbruchstelle des Matriarchats" 47bleibt Sombarts Entwicklung nicht in den Zwängen der Geschlechterrolle stecken. Vielmehr baut sich Nicolaus Sombart auf der Basis der vorgelebten Liberalität schon in jungen Jahren einen pluralistischen Lebensstil auf, der über das bloße Imitieren der Eltern herausgeht - Sombart erfindet sich sozusagen immer wieder neu.
Der aufkommende Nationalsozialismus, das "gesunde Volksempfinden" macht sich für ihn als Bedrohung dieser pluralistischen Lebenskultur bemerkbar. Sombart zeigt dies am Beispiel des Zerfalls des Grunewaldgymnasiums: "Ich [...] sah, wie sie Schritt für Schritt gleichgeschaltet und auf das Niveau einer ordinären Oberschule [...] heruntergebracht wurde. Die jüdischen Mitschüler verschwanden, die großen Hörsäle und Laboratorien verödeten, immer mehr Klassenräume standen leer, das wichtigste Fach war jetzt das Turnen. Es fanden seltsame patriotische Feiern, Flaggenparaden und Gedenkstunden statt, was auf Kosten des Unterrichts ging. Schon damals empfand ich diese progressive Verödung als Verarmung und Verelendung." 48
Der Nationalsozialismus als Ende der Kultur - dem ist nichts hinzuzufügen.

?

nach oben

Fazit

Auch wenn "Jugend in Berlin" kein wissenschaftliches Werk ist, auch wenn es stellenweise schwerfällt, der narzisstischen Selbstdarstellung Sombarts zu folgen, auch wenn der Subjektivität mancherorts zu freien Lauf gelassen wird - bei aller Kritik kann dieser Bildungsroman für den aufmerksamen und kritischen Leser auch soziologisch interessant sein, weil es einen konkreten Einblick in vergangene Sozial- und Bildungsstrukturen und -mechanismen in Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre ermöglicht.
"Jugend in Berlin" kann daher - in all seiner Subjektivität - als Milieubeschreibung einen Beitrag zur Erforschung und zum Verständnis des "deutschen Sonderweges" leisten.

?

nach oben

Dieser Text ist mir etwas wert:   Was ist das?

Anzeige
1 "The German word Bildungsroman means "a novel of formation": that is a novel of someo-ne's growth from childhood to maturity." - The German Bildungsroman.
Externer Linkhttp://andromeda.rutgers.edu/~jlynch/terms/bildungsroman.html
2 "[...] the story of a single individual's growth and development within the context of a defi-ned social order." - The term Bildungsroman.
Externer Linkhttp://landow.stg.brown.edu/victorian/genre/hader1.html
3 Meyers Taschenlexikon in 2 Bänden. Band 1. Mannheim 1989.
4 Vgl. Kern, Norbert / Rainer, Eva und Gerald: Vorwort zu den Kurzfassungen der Literatur-Epochen nach Stichwort Literatur.
Externer Linkhttp://www.veritas.at/deutsch/stichwort_literatur/epochen/pdf/volltext.pdf
5 Vgl. Kern, Norbert / Rainer, Eva und Gerald: Vorwort zu den Kurzfassungen der Literatur-Epochen nach Stichwort Literatur.
Externer Linkhttp://www.veritas.at/deutsch/stichwort_literatur/epochen/pdf/volltext.pdf
6 Kern, Norbert / Rainer, Eva und Gerald: Vorwort zu den Kurzfassungen der Literatur-Epochen nach Stichwort Literatur.
Externer Linkhttp://www.veritas.at/deutsch/stichwort_literatur/epochen/pdf/volltext.pdf
7 Für die Biografie wurden verwandt:
Sombart, Nicolaus: Ein Lebenslauf.
Externer Linkhttp://www.woerter.de/sombart/lebenslauf.html
und
Buselmeier, Michael: Das Weltkind in der Provinz. Nicolaus Sombarts "Heidelberger Reminiszenzen" In: Die Zeit 47/2000.
Die genannten Veröffentlichungen Sombarts in dieser Biographie beschränken sich auf die für diese Arbeit notwendig zu erwähnende Literatur. Ausführliche Bibliographien sind unter
Externer Linkhttp://www.woerter.de/sombart/lebenslauf.html
und
Externer Linkhttp://www.woerter.de/sombart/weitere-veroeffentlichungen.html
zu finden.
8 SWR2 Zeitgenossen: Nicolaus Sombart interviewt von Peter Koester. Sendung vom Sonntag, 30. Januar 2000, 14.15 bis 15.00 Uhr.
Externer Linkhttp://www.swr2.de/zeitgenossen/sendungen/2000/01/30/
9 Opitz, Dieter J. : In Räuberzivil. Berliner Morgenpost vom 15.10.2000
Externer Linkhttp://www.berliner-morgenpost.de/archiv2000/001015/biz/story354279.html
10 Poets, Essayists, Novelists - Internationale Schriftstellervereinigung, um 1920 in Großbritannien als literarischer Freundeskreis gegründet.
11 Sombart, Nicolaus: Ein Lebenslauf.
Externer Linkhttp://www.woerter.de/sombart/lebenslauf.html
12 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 11.
13 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 11.
14 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 12.
15 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 12.
16 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 51.
17 Heute bilden 11500 dieser 1928 verkauften Bücher die "Werner-Sombart-Bibliothek" der Universität Osaka. Vgl. Osaka City University Media Center: Special Collections Stack Room.
Externer Linkhttp://libhome.media.osaka-cu.ac.jp/eng/guide/7f_bunko.html
18 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 13.
19 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 52.
20 Die Tradition der privaten Gelehrtenbibliothek setzt sich heute als Ersatzform unter den Bedingungen eines modernen Wissenschaftsbetriebes in den Institutsbibliotheken der Universitäten fort. Vgl. Fabian, Bernhard: Zwischen Buch und Bildschirm.
Externer Linkhttp://www.home.t-online.de/home/Vittorio.Klostermann/fabia_01.htm
21 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 55.
22 Auch Nicolaus Sombart hat vor kurzem einen Berliner Salon begründet. Vgl. Mehnert, Reina: Berliner Salon - Wiederbelebung einer Tradition.
Externer Linkhttp://www.juedisches-berlin.de/Zeitgeschichte/Salons.htm
23 Vgl. Ortmann, Sabrina: Literarische Salons in Berlin: Freiräume weiblicher Emanzipation?
Externer Linkhttp://www.berlinerzimmer.de/ortmann/studium/salons.htm
24 Vgl. Ortmann, Sabrina: Literarische Salons in Berlin: Freiräume weiblicher Emanzipation?
Externer Linkhttp://www.berlinerzimmer.de/ortmann/studium/salons.htm
25 Ortmann, Sabrina: Literarische Salons in Berlin: Freiräume weiblicher Emanzipation?
Externer Linkhttp://www.berlinerzimmer.de/ortmann/studium/salons.htm
26 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 58.
27 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 58.
28 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 58.
29 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 60.
30 Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1925. S. 455.
31 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 15.
32 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 15.
33 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 277 ff.
34 Diese Ausprägungen des kulturellen Kapitals sind: inkorporiert, objektiviert, institutionalisiert. Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital." In: Soziale Ungleichheit. Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen 1983. S. 185 ff.
35 Über die räumliche Zuordnung von Siedlungsgebieten, die ja sozioökonomische und soziokulturelle Schichtungen und Milieus abbilden, zu Schulen findet auch immer eine Determination hinsichtlich der Schulklasse statt. Das Grunewaldgymnasium hatte aber als Art Gesamtschule eine relativ heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft.
36 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 15.
37 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 15.
38 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 15 ff.
39 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 14.
40 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 14.
41 Vgl. Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 14.
42 Diese soziale Ungleichheit hat naturgemäß auch einen starken Einfluss auf die politische Haltung, auch wenn sie sich nicht immer als offensichtlich politisch darstellt.
43 "Die Schule [...] muss in einem völkischen Staat unendlich mehr Zeit freimachen für die körperliche Ertüchtigung. Es geht nicht an, die jungen Gehirne mit einem Ballast zu beladen, den sie [...] nur zu einem Bruchteil behalten [...] Wenn heute [...] Turnen in einer Woche mit knappen zwei Stunden bedacht [...] wird, so ist dies, verglichen zur rein geistigen Ausbil-dung, ein krasses Missverhältnis. Es dürfte kein Tag vergehen, an dem der junge Mensch nicht mindestens vormittags und abends je eine Stunde lang körperlich geschult wird [...]". Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1925. S. 454.
44 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 17.
45 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 17.
46 Pross, Harry: Vor und nach Hitler. Zur deutschen Sozialpathologie. Freiburg 1962. S. 183.
47 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 58.
48 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991. S. 16.

Literaturverzeichnis

Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheit. Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen 1983.

Buselmeier, Michael: Das Weltkind in der Provinz. Nicolaus Sombarts "Heidelberger Reminiszenzen" In: Die Zeit 47/2000.

Fabian, Bernhard: Zwischen Buch und Bildschirm.
Externer Linkhttp://www.home.t-online.de/home/Vittorio.Klostermann/fabia_01.htm

Grosskopf, Rudolf: Wo ist eigentlich oben? In: DS - Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 18. August 2000.
Externer Linkhttp://www.sonntagsblatt.de/artikel/2000/33/33-s2.htm

Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1925. S. 455.

Huber, Karl-Heinz: Jugend unterm Hakenkreuz. Berlin 1986.

Kern, Norbert / Rainer, Eva und Gerald: Vorwort zu den Kurzfassungen der Literatur-Epochen nach Stichwort Literatur.
Externer Linkhttp://www.veritas.at/deutsch/stichwort_literatur/epochen/pdf/volltext.pdf

Mehnert, Reina: Berliner Salon - Wiederbelebung einer Tradition.
Externer Linkhttp://www.juedisches-berlin.de/Zeitgeschichte/Salons.htm

Meyers Taschenlexikon in 2 Bänden. Band 1. Mannheim 1989.

Opitz, Dieter J. : In Räuberzivil. Berliner Morgenpost vom 15.10.2000
Externer Linkhttp://www.berliner-morgenpost.de/archiv2000/001015/biz/story354279.html

Ortmann, Sabrina: Literarische Salons in Berlin: Freiräume weiblicher Emanzipation?
Externer Linkhttp://www.berlinerzimmer.de/ortmann/studium/salons.htm

Osaka City University Media Center: Special Collections Stack Room.
Externer Linkhttp://libhome.media.osaka-cu.ac.jp/eng/guide/7f_bunko.html

Pross, Harry: Vor und nach Hitler. Zur deutschen Sozialpathologie. Freiburg 1962.

Sombart, Nicolaus: Ein Lebenslauf.
Externer Linkhttp://www.woerter.de/sombart/lebenslauf.html

Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 1933 - 1945. Ein Bericht. Frankfurt am Main 1991.

Sombart, Nicolaus: Weitere Veröffentlicheungen.
Externer Linkhttp://www.woerter.de/sombart/weitere-veroeffentlichungen.html

SWR2 Zeitgenossen: Nicolaus Sombart interviewt von Peter Koester. Sendung vom Sonntag, 30. Januar 2000, 14.15 bis 15.00 Uhr.
Externer Linkhttp://www.swr2.de/zeitgenossen/sendungen/2000/01/30/

The German Bildungsroman.
Externer Linkhttp://andromeda.rutgers.edu/~jlynch/terms/bildungsroman.html

The term Bildungsroman.
Externer Linkhttp://landow.stg.brown.edu/victorian/genre/hader1.html

Wecker, Angelika: Die Gruppe 47.
Externer Linkhttp://www.theaterinternational.de/Turandot/DieGruppe47.htm

?

nach oben

Anzeige
Impressum
Datenschutzhinweis
Webmaster PGP
Screendesign: Patrick G. Stößer [p:g:s] PGP
URL dieser Seite: http://texte.pgs-info.de/docs/sombart.htm